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Der Blick von oben

Gedanken zu Beobachtungen von Astronauten im Weltraum


Hans W. Riedl, staatl. gepr. Augenoptiker, WVAO 

Februar 1998


 

Schlüsselwörter/keywords

Chromatische Aberration

chromatic aberrations

Leuchtdichte

Luminance

Mikrobewegung

Micromovement

Schwerelosigkeit

zero gravity

Sehen, mesopisches

mesopic vision

Sehen, photopisches

photopic vision

Sehschärfe

visual acuity

Sehschärfeprüfung

visual acuity testing

Sehtestgerät, zur Testung während des Fluges

in-flight-vision-tester

 

Nur sehr wenigen Menschen ist es vergönnt, für eine begrenzte Zeit die Fesseln der irdischen Schwerkraft abstreifen und das Gefühl der Schwerelosigkeit erfahren zu können. Da dem normalen Erdenbürger dieses Erlebnis gewöhnlich verschlossen bleibt, sind wir auf Beschreibungen von dazu auserwählten Mitmenschen angewiesen, uns ihre äußerst beeindruckenden Beobachtungen mitzuteilen. Auch wir Augenoptiker können uns durchaus von den Berichten, z. B. wie ein Astronaut vom Weltraum aus die Erde sieht, anregen lassen, über eingefleischte optologische und optometrische Ansichten nachzudenken.

Schon Astronaut John H. Glenn (Abb.1), der erste Amerikaner im Orbit (20.02.1962), schwärmte von der aufregenden Schärfe, mit der er aus der Umlaufbahn seiner Kapsel, Friendship 7, die Erdoberfläche sehen konnte.

 

 Abbildung 1: Astronaut John Glenn in seiner Kapsel, Friendship 7, fertig für den Start der Atlas-Rakete am 20. Februar 1962.

Der Unterzeichner betreibt seit Jahren Recherchen nach der Originalaufzeichnung dieser in einem Buch Hoimar v. Ditfurths („Der Geist fiel nicht vom Himmel“, 1976) [1] geschilderten Beobachtungen. In mancherlei Hinsicht wurde er dabei fündig: Es gibt nämlich keinen Zweifel mehr daran, dass dieses Phänomen damals die Wissenschaftler der NASA aufhorchen ließ, weil man gleich bei mehreren nachfolgenden Raumfahrtmissionen auf die Sehschärfe abzielende Untersuchungen vornahm. Nirgendwo - weder in Bibliotheken, noch im Internet - gelang es aber Ditfurths seinerzeitige Quelle als schriftlichen Beleg aufzuspüren.

Im kürzlich erschienenen Buch eines deutschen Astronauten fand der Unterzeichner nun endlich vergleichbare authentische Informationen:

„In 90 Minuten um die Erde“

von Dr. Ulrich Walter, Mitglied der deutschen Space Shuttle-Mission D-2, die vom 26. April bis 6. Mai 1993 stattfand [2].

Die Raumfähre Columbia umrundete die Erde in einer kreisförmigen Umlaufbahn in 300 Kilometer Höhe. Walter (Jahrgang 1954) beschreibt im Kapitel „Der Blick von oben“ den Blick aus dem Fenster seines Raumfahrzeugs als er „seinen Wohnort“ Houston überfliegt:

„Unglaublich, welche Details man sehen kann ... Ausfallstraße Highway I 45 ... ebenfalls noch schwach erkennbar, die Abzweigung zur NASA Road 1 ... Wohngebiet, dessen detaillierte Strukturen ich zwar nicht mehr erkennen kann, aber von dem ich weiß, dass sich dort in einem der Wohnblocks meine Familie befindet.“

Walter gibt an, auf der Erdoberfläche sei mit bloßem Auge alles zu erkennen, was größer ist als 30 Meter! Diese detaillierten Beschreibungen lassen auf eine ungewöhnlich hohe visuelle Auflösung, sprich Sehschärfe schließen, die mit dem Fehlen der Atmosphäre möglicherweise nicht allein zu erklären sein dürfte, sondern mit der Schwerelosigkeit in Zusammenhang zu bringen ist.

Immer wieder spricht Walter von „ ... der unglaublichen Schärfe, mit der man die vielen Details sehen kann. ... im hellen Licht der Sonne ist jeder größere Straßenzug (Cordoba?) deutlich sichtbar  ... viel schärfer als aus einem Flieger in 10 Kilometer Höhe“.

Warum das so ist? Im Special „Der Marilyn-Monroe-Effekt“ versucht Walter dafür eine einleuchtende Erklärung zu geben.

Auf die Erde schauen mit Marilyn Monroe..

Sinngemäß drückt er aus: „Es ist schon erstaunlich, welche Details sich von der Shuttle-Umlaufbahn aus sehen lassen: Einzelne Flüsse, Landebahnen, Häuserblocks, ja einzelne Straßen, selbst kleinere, wenn sie durch monotones Gelände verlaufen. Wie kann das sein? Aus 300 Kilometer Höhe! Ich nenne es den Marilyn-Monroe-Effekt. Im Film bedient man sich dieses Effektes, um eine Szene mit einem Spritzer Erotik zu unterlegen ... Duschkabine mit schlierigen Scheiben ... Marilyn dicht hinter den Scheiben kann den Außenstehenden (Kameramann) nicht erkennen, er verschwimmt in Unschärfe. ... dem Außenstehenden erscheinen mit zunehmendem Abstand (nicht zu weit!) die Konturen Marilyns hinter der Scheibe immer schärfer.“

Wenn Walter sagt, eine ähnliche Situation liege auch beim Flug über die Erde vor, dann hinkt der Vergleich mit der Duschkabine wohl etwas, weil die etwa 15 bis 20 Kilometer dicke Atmosphäre zum Weltraum hin nicht wie eine Kabine schlagartig abgegrenzt ist, sondern sich allmählich (logarithmisch) gegen Null verdünnt!

Walter vertritt die Ansicht, es zähle nur der Abstand zu den Turbulenzen. Während dieser für den Astronauten optimal sei, befinde sich der Flieger direkt in den Turbulenzen und könne aus seinem Abstand zur Erdoberfläche keinen visuellen Vorteil ziehen.

Andererseits schreibt er: „Analog zum Kameramann vor der schlierigen Duschscheibe ... verwischt die turbulente Atmosphäre den Blick eines Passagiers in 10 Kilometer Höhe relativ stärker als unser Blick in 300 Kilometer Höhe“

Aus „Relativ“ ist zu entnehmen, dass der „Blick von oben“ aus einem Flieger mit zunehmender Höhe in immer dünnerer Atmosphäre wohl zunehmend besser wird. Wenn die turbulente Atmosphäre den entscheidenden Ausschlag gibt, müsste also ein Blick aus der dünnen Luft in 10.000 Meter Höhe relativ „schärfer“ sein als der aus 5.000 Meter. Kein Pilot hat aber jemals berichtet, dass „relativ schärfer“ eine bemerkenswerte Größe ist. Wohl aber weiß man, dass zu atmosphärisch möglichst ungestörten Himmelsbeobachtungen man sich in größere Höhen begeben muss. Die Turbulenzen beeinflussen natürlich das Sehen, aber offensichtlich nicht so, dass man so überschwänglich schwärmen kann – wie Dr. Walter. Das Phänomen im Weltraum muss eine andere Dimension haben!

Indem Walter sich ganz auf die Turbulenzen konzentriert, scheint er eine wesentliche Veränderung beim Übergang von der Atmosphäre in den Weltraum außer Acht zu lassen. Der Pilot im Flieger macht seine Beobachtungen aus verschiedenen Distanzen zur Erde (beim Horizontalflug) immer im Zustand der Schwere, während der Astronaut im Shuttle sich im Zustand der Schwerelosigkeit befindet! Diesem Umstand sollte sicher Beachtung geschenkt werden ... !

Ungeachtet dessen wäre es durchaus möglich, den atmosphärischen Einfluss auf das Sehen des Astronauten in 300 Kilometer und auf den des Fliegers in 10 Kilometer Höhe anhand von Walters Aussagen zum Vergleich wenigstens grob zu kalkulieren:

Vernachlässigte man zum Beispiel die Wirkung der Turbulenzen vollends und setzte sie gleich Null, dann müssten seinen Angaben aus der Umlaufbahn zufolge aus 10 Kilometer Höhe auf der Erde – im Verhältnis 30:1 – Objekte von 1 Meter Größe zu erkennen sein. Das wäre sogar mit der von Walter angesetzten Sehschärfe von V=2,0(!) praktisch und rechnerisch nicht nachvollziehbar. Obwohl schon dieses Exempel an Walters Theorie zweifeln lässt, bedarf es zusätzlich eines objektiven Beweises. Fotografisch unbestechliche Vergleichsaufnahmen 30:1 – nämlich aus einem Shuttle in 300 Kilometer und einem Flieger in 10 Kilometer Höhe – könnten belegen, in welchem Maße die Turbulenzen der Atmosphäre tatsächlich für das Phänomen verantwortlich sind:

Die relative Schärfenbeeinflussung durch die Atmosphäre müsste sich anhand von fotografischen Aufnahmen aus der Shuttle-Umlaufbahn objektiv nachweisen lassen. In den umfangreichen Bildarchiven der NASA sind sicher Aufnahmen geeigneter Objekte auf der Erdoberfläche zu finden, aus denen sich die fotografische Auflösung ermitteln lässt. Wiederholte man die Aufnahmen unter gleichen Bedingungen (Richtung, Beleuchtung, Kameraoptik usw.) aus 10.000 Metern Höhe, so ließe sich der relative Einfluss der Atmosphäre durchaus beurteilen. Ergibt sich zwischen der fotografisch ermittelten Auflösung in den unterschiedlichen Höhen eine Differenz, die geringer ist als die subjektiv visuell wahrgenommene, so kann diese Diskrepanz nicht den Turbulenzen, sondern muss dem Einfluss der Schwerelosigkeit auf das Sehen zuzuschreiben sein. – Der Effekt wäre relativ einfach nachweisbar.

Nicht zu übersehen, der Vergleich des Blicks auf die Erdoberfläche mit dem auf Marilyn in der Duschkabine ist schon deshalb kaum haltbar, weil durch die Bewegungen der menschlichen Gestalt abwechselnd mehr und auch weniger schlierige Partien der Duschscheibe die Sicht des Kameramannes mal mehr, mal weniger beeinträchtigen. Die dadurch erleichterte Formerkennung wird also für den Voyeur eine erheblich größere Rolle spielen als für die Sicht des Fliegers oder des Astronauten.

 „Vorausgesetzt man hat scharfe Augen, dann lässt sich vom Shuttle aus das volle menschliche Sehvermögen ausspielen: ... das theoretische Auflösungsvermögen eines gesunden Auges (Walter: „Abstand der Sehstäbchen“) ... beträgt eine halbe Bogenminute. Damit lässt sich alles erkennen (mit bloßem Auge), was größer ist als 30 Meter ... durch einen kleinen Trick des Sehzentrums erkennt man sogar Strukturen, die noch kleiner sind.“

Walter spricht mit unbewusstem Auslenken des Blicks (... mit diesem Wackeltrick) offensichtlich die Mikro-Bewegungen der Augen an, die das Auflösungsvermögen „verbessern“. Besondere Nervenverschaltung und ein auf Kanten- und Mustererkennung getrimmtes Analyseverfahren des Gehirns soll eine weitere Steigerung ermöglichen ... (gemeint ist die Noniussehschärfe). Der Physiker Walter bewegt sich mit den Photorezeptoren („Sehstäbchen“) auf einem Wissensgebiet, das ihm offensichtlich nicht ganz vertraut ist. Obwohl er sicher zu sein glaubt, dass allein die Turbulenzen der Atmosphäre ausschlaggebend sind, gibt ihm die überwältigende Schärfe, mit der Details auf der Erde erkennbar werden, aber doch zu denken. Selbst für die von ihm für scharfe Augen angesetzte Sehschärfe von V=2,0 scheint seine Berechnung nicht ganz aufzugehen. Er sucht eine Erklärung für seine schwärmerisch vorgetragene Schärfe und bemüht dazu bemerkenswerterweise die Mikro-Bewegungen. Sie sollen wie bei einigen Camcordern als „Wackeltrick“ das Auflösungsvermögen verbessern.

Auch Astronaut Glenn beschrieb, aus dem Orbit – damals aus durchschnittlich 150 Kilometern Höhe (elliptische Flugbahn) – Schiffe und Lastzüge auf der Erde erkannt zu haben. Dies setzte ein außergewöhnliches Auflösungsvermögen voraus, das auf der Erde nicht nachweisbar war. Bei einer nachfolgenden Mission (GEMINI 5 – 1965) vergewisserte man sich der Angaben anhand speziell dazu ausgelegter Kontrollobjekte (Abb.2). Und es stimmte!

 

Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung des bei der Gemini 5-Mission durchgeführten Testes zur Überprüfung der Angaben von Astronauten, aus dem Orbit auf der Eroberfläche Details erkennen zu können, die sich mit der auf der Erde feststellbaren Sehschärfe nicht vereinbaren lassen. (Bitte beachten Sie den Nachtrag am Ende des Artikels.)

Wenn Ditfurt es in seinem Buch richtig wiedergab, erklärte „man“ sich dieses auffällige Phänomen damals mit dem Einfluss der Schwerelosigkeit auf die „Zitterbewegungen“ des Auges.

Obwohl Dr. Walter – wie er dem Unterzeichner bestätigte – von den Beobachtungen Glenns und von v. Ditfurths Buch nichts wusste, greifen beide Autoren den gleichen Gedanken auf! ... (!) Mehr dazu weiter unten.

Sehtests in der Umlaufbahn

Dem Unterzeichner war es bislang – wegen persönlichen Datenschutzes – nicht möglich, von der NASA die Ergebnisse der bei den GEMINI-Missionen (GEMINI 4, 5, 6 und 7) an 4 Astronauten vorgenommenen Sehschärfe-Prüfungen mit eigens dazu konstruierten Sehtestgeräten (Abb.3a/b und 4) zu erhalten. Zugänglich waren ihm nur spätere Untersuchungen an 16 Astronauten mit den Visiontestern VFT-1 und VFT-2 [4] während Space-Shuttle-Missionen in den Jahren 1981 bis 1986, die allerdings – entgegen den Erwartungen – keine signifikanten Unterschiede zwischen Messungen bei Schwerelosigkeit und unter Schwere erbrachten.

 

Abbildung 3a: IN-FLIGHT VISION TESTER, verwendet bei Gemini-Experimenten, die Schiene am Geräteboden dient zur Aufnahme einer Beißplatte als Halterung während des Einsatzes.

Abbildung 3b: IN-FLIGHT VISION TESTER, verwendet bei Gemini-Experimenten; an der oberen Zeichnung ist zu erkennen, wie der Astronaut das Gerät mit der Beißvorrichtung in Gebrauchsstellung zu fixieren hat.

Abbildung 4: Astronaut James Lovell beim Einsatz des IN-FLIGHT VISION TESTERS während des Gemini 7-Fluges; die dicht anliegenden Augenmuscheln sollen offenbar jede äußere Beeinflussung der Adaptation ausschließen (der extreme Gegensatz zu „freier“ Sicht!)

Hinweis des Verfassers:
Die Abbildungen 2, 3a, 3b und 4 wurden dem Verfasser
dankenswerterweise von der
National Aeronautics and Space Administration (NASA)
Maryland Avenue, Washington, DC
zur Verfügung gestellt.

 

Nach allem, was man bisher zu der überraschenden Schärfe vernahm, sind diese Untersuchungsergebnisse natürlich total ernüchternd! – Warum war die von den Astronauten gepriesene unglaubliche Sehschärfe mit den Testgeräten nicht nachweisbar? Könnte es sein, dass in den verwendeten Visiontestern Sichtbedingungen herrschten, die das photopische Sehen (Tagessehen) nicht aktivieren konnten? Um nur zwei von mehreren Voraussetzungen anzusprechen, sei Größe und Leuchtdichte des Testumfeldes genannt. Dieser Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, wie das Sehschärfeexperiment von Lythgoe (Abb.5) belegt.

 

Abbildung 5: Abhängigkeit der Sehschärfe vom Adaptationszustand nach Lythgoe (aus VISION AND PERCEPTION, identisch mit Bild 143 in [7];). Der Adaptationszustand wird durch die Umfeldleuchtdichte bestimmt. Kurve A Dunkeladaptation, Kurve B Adaptation auf 0,038 cd/m², Kurve C Umfeld = Infeldleuchtdichte; der Versuch zeigt laut Schober, dass Wechselwirkungen (Adaptation) in der ganzen Netzhaut auftreten und dass es falsch ist, einen bestimmten Zapfen oder auch ein bestimmtes Netzhautelement für sich allein zu betrachten.

Seine Testperson befindet sich in einem gleichmäßig ausgeleuchteten oder abgedunkelten Raum und beobachtet durch ein kleines Fenster ein Testfeld mit variabler Leuchtdichte. Mit diesem Versuch weist er nach, dass der Adaptationszustand von der Umfeldleuchtdichte bestimmt wird. – Falls sich aus der Konstruktion des Visiontesters eine Parallele zum dunklen Umfeld des Versuchs (Kurve A und B) ableiten lässt, ist das vermutete Dämmerungssehen naheliegend!

Wenn der Sehschärfeanstieg in der Erdumlaufbahn bei Sehtests nicht nachweisbar war, ist anzunehmen, dass die Augen nicht in die Lage versetzt wurden, das Tagessehen zu aktivieren. Tages- und Dämmerungssehen müssen sich durch die retinale Reizverarbeitung unterscheiden. Funktioniert im photopischen (Tages-) Sehen die foveoläre Selektion des zentral abbildenden Strahlenbündels nach Kriterien der chromatischen Aberration, so ist im mesopischen (Dämmerungs-) Sehen die „Photorezeptoroptik“ wirksam [5]. Obwohl das Testobjekt selbst sicher ausreichend hell ausgeleuchtet war, konnten die Umfeldbedingungen im Einblickgerät möglicherweise das photopische Sehen nicht auslösen. Vergleiche: Der Lichtkegel des Auto-Scheinwerfers ist nicht in der Lage, das Tagessehen zu aktivieren. Wegen des dunklen Umfeldes verharrt das Auge im Zustand des Dämmerungssehens! Für Tests zum Tagessehen sind Einblickgeräte deshalb problematisch; es sollten besser Freisichtgeräte [6] eingesetzt werden.

Ist aber die Retina nicht photopisch, sondern mesopisch aktiviert, kann die Foveola die während der Mikro-Bewegungen empfundene chromatische Aberration wegen anderer Reizverarbeitung nicht verwerten. Und darin scheint die Lösung zu stecken ...

kühne Gedanken ... ? (eine These)

Der Leser möge Verständnis dafür aufbringen, dass der Unterzeichner sich durch den „Blick von oben“ – wie eingangs erwähnt – hinreißen ließ, sich darüber „unübliche“ Gedanken zu machen. Es entstand so der Ansatz zu einer These, die es ermöglicht, die Sehschärfenzunahme in der Erdumlaufbahn mit Hilfe des Stiles-Crawford-Effektes zu erklären. Natürlich ist der Schreiber sich darüber im klaren, dass dieses „Modell“ nur soviel wert sein kann wie es nachvollziehbar und schließlich beweisbar ist.

Es sei deshalb ausdrücklich erwähnt, dass der Physiker Dr. Walter, der freundlicherweise den ersten Entwurf dieses Aufsatzes durchsah und kommentierte, sich der Verfolgung dieses Aspektes nicht anschließen kann. Dr. Walter hält an seiner These „Turbulenzen“ fest.

Zur „Sehschärfebestimmung“: Bekanntlich müssen einem Auge das über Visus 1,0 verfügt, zwei getrennte Objektpunkte unter einem Winkel von einer Minute (60“) dargeboten werden, damit sie als zwei getrennte Bildpunkte wahrgenommen werden. Daraus leiten sich Strichstärke und Lücke für ein Sehzeichen wie z. B. Landoltring ab. Setzt man „Lücke“ für erkennbare Details, dann lassen sich Walters erkannte Objekte, die größer als 30 Meter sind, vergleichbar einordnen. Wenn die Lücke eines Sehzeichens für Visus 1,0 (60“) auf 1 Meter Distanz 0,29 mm beträgt, dann müsste sie auf 300.000 Meter Distanz 87 Meter betragen. Unterstellt man, daß Walter von einem Sehwinkel von 30“ ausgeht, so reduziert sich das Detail auf 43,5 Meter. (Um ein Objekt dieser Größe erkennen zu können, muss es sich allerdings innerhalb einer Fläche – „monotones Gelände“ – mit mindestens 3-facher Ausdehnung, also etwa 130 Metern Durchmesser befinden.) An diesem kleinen Beispiel wird deutlich, dass sich zwischen den 30 Metern Durchmesser erkennbarer Details und unserer Berechnung ein gewisses Missverhältnis ergibt. Die 30 Meter würden nämlich einer Sehschärfe von Visus 2,9 entsprechen!

Selbst wenn man eine Formenempfindlichkeit zugrunde legte, die nur etwa halb so breite Ausdehnung in nur einer Richtung (Straßen, Landebahnen) auflösen kann, muss man sich fragen, ob solche Objekte den allgemeinen Eindruck „Schärfe“ auch tatsächlich bestimmten. Geht man jedoch davon aus, dass das nach der Struktur der Netzhaut in der Foveola bedingte angulare Auflösungsvermögen - laut Polyak (Schober) [3] - bei 20“ also V=3,0 liegen soll, dann bewegen sich die Angaben Walters mit 30 Metern auch für beliebige Objekte im durchaus realistischen Bereich.

Hier ist es nun angebracht, darüber nachzudenken, warum es unter Schwerelosigkeit möglich ist, diese anatomisch bedingten Grenzwerte tatsächlich auszuschöpfen und warum das unter Bedingungen der Schwerkraft nicht möglich ist.

Kann man eventuell den „Wackeltrick“ von Walter auch anders auslegen? Wie schon v. Ditfurth zum Ausdruck brachte, sollen sich die Mikro-Bewegungen unter Schwerelosigkeit anders verhalten. Ist diese Information richtig (entsprechende Recherchen des Unterzeichners nach deren Echtheit waren bisher leider erfolglos), dann ist möglicherweise die Empfindung von chromatischer Aberration (CA) als ausschlaggebender Faktor nicht auszuschließen ...

„Der Wackeltrick“ oder: Was haben die Mikro-Bewegungen mit der visuell wahrnehmbaren Abbildungsqualität zu tun?

Walter spricht von einem unbewussten Hin- und Herbewegen der Augen. Er greift damit völlig unabhängig von Hoimar v. Ditfurth die Mikro-Bewegungen des Auges auf, um dem Geheimnis der mit der Struktur der Netzhaut „nicht erklärbaren“ hohen Auflösung auf die Spur zu kommen – Ditfurth geht von einer anatomisch bedingten Auflösung von 1 Minute, Walter von einer halben Minute aus. Folgt man der Darstellung Walters, so ist es durch die „Wackelbewegung“ möglich, die anatomisch bedingten Grenzwerte der Auflösung zu steigern, weil der um einen halben Zellendurchmesser versetzte Zwischenraum zwischen zwei belichteten Zellen auch genutzt werden kann. Während diese Darstellung geeignet sein mag, die Noniussehschärfe zu erklären, ist sie für das Minimum separabile jedoch nicht anwendbar und erklärt schon gar nicht, warum die Auflösung im Weltraum besser sein soll. Das Auge bedient sich ja auch unter Schwere dieses „Tricks“. Weiter kommt man mit v. Ditfurths Begründung, unter Schwerelosigkeit seien die Sakkaden anders. Er meinte schneller und größer, so dass mehr Netzhautzellen schneller regeneriert werden und sich dadurch die Sehschärfe erhöhen ließe. - Richtig, mit der Größe der Sakkaden muss ein Trugschluss vorliegen, aber ...

 ... das Modell der Wackelbewegungen sollte man deswegen nicht verwerfen, sondern versuchen, es anders einzuordnen.

Unterstellt man als Modell, dass Mikro-Bewegungen tatsächlich in einen Zusammenhang mit der unterschiedlichen Sehschärfe zu bringen sind, ist zu bedenken, dass größere Ausschläge und höhere Sehschärfe bei jeder Art von Nystagmus, also auch Mikro-Bewegungen, sich gegenseitig ausschließen, weil Größe der Sakkaden und Sehschärfe sich immer umgekehrt proportional verhalten. Der Zusammenhang kann also nur darin bestehen, dass die höhere Auflösung in der Erdumlaufbahn auf verminderte Ausschläge zurückzuführen ist.

Wie lässt sich aber erklären, dass es durch verminderte Ausschläge unter Schwerelosigkeit zu einer verbesserten Wahrnehmung der Abbildungsqualität kommen kann? Dies muss im Grunde die Voraussetzung dafür sein, dass die volle Leistungsfähigkeit des durch die Zellenstruktur der Foveola bedingten Auflösungsvermögens auch ausgeschöpft werden kann.

War der Gedankengang bis hierher noch mit geläufiger augenoptischer Erfahrung in Einklang zu bringen, so bedarf es zum Verständnis des folgenden Schrittes, sich dem Stiles-Crawford-Effekt im weißen Licht zuzuwenden. Wenn wir die Mikro-Bewegungen  des Auges als „Unruhe“ beim Fixieren (dynamische Fixationsdisparation) verstehen (Abb.6), ist es nur folgerichtig, dem disparaten Bildort eines weißen Objektpunktes die retinale Empfindung von chromatischer Aberration (CA) zuzugestehen. – Man muss sich jetzt fragen, warum wir dann diese CA nicht wahrnehmen? Sicher aus zwei Gründen: Einmal, weil die Mikro-Sakkaden sich nur in der Größe von Winkelminuten bewegen, die Dispersion also relativ gering ist, vor allem aber auch, weil das zur Information des Gehirns über zentrale Abbildung genutzte Fixierstrahlenbündel deutlich enger ist als das durch die Pupille freigegebene. Das ist aus dem Effizienzabfall peripher in die Pupille eintretender Strahlenbündel, den die SC-Funktion ausdrückt, zu schließen.

Abbildung 6: Schwankungen des Netzhautbildortes (Mikro-Bewegungen) bei Fixation eines Objektpunktes, aus [8]; die Fixation wird in einem Netzhautbereich von 0,05 mm Durchmesser gehalten, das entspricht einem Sehwinkel von ungefähr 10 Minuten.

Es ist anzunehmen, dass die bei den Sakkaden der Mikro-Bewegungen empfundene chromatische Queraberration (Abb.7) von der retinalen Sensorik als „Normal“ toleriert wird. Dieses „Normal“ wird von der Sensorik als Grenzwert tolerierbarer chromatischer Aberration gespeichert und zu Vergleichen (Referenz) herangezogen. Für die chromatische Längsaberration resultiert daraus ein maximaler Öffnungswinkel des zentral abbildenden Strahlenbündels. Vermindern sich nun unter Schwerelosigkeit die Sakkaden der Mikro-Bewegungen, verringert sich die dabei zu empfindende CA. Das Maß für „Normal“ reduziert sich und dient als neues Kriterium der Selektion. Die Folge ist ein engeres zentral abbildendes Strahlenbündel, und das führt bei der Vielzahl von Aberrationen, mit denen das System Auge belastet ist, direkt zu besserer wahrnehmbarer Abbildungsqualität und höherer Sehschärfe als sie unter Schwere möglich ist. Dieser Selektionsprozess, der an die Mikro-Bewegungen gebunden ist, drückt sich im Stiles-Crawford-Effekt im weißen Licht aus – wie er 1932 entdeckt wurde!

Bedenkt man diesen mutmaßlichen Zusammenhang, erklärt sich die Beziehung zwischen Schwerelosigkeit und unglaublicher Sehschärfe. Der Unterzeichner zitierte schon wiederholt den Autor v. Ditfurt, und nimmt ihn sehr ernst, konnte allerdings bisher keine Bestätigung für die Echtheit seiner Information vorlegen.

Mit der Schilderung Walters sind jetzt bezüglich der Sehschärfe die Zweifel beseitigt. Ditfurth scheint auch mit einem Einfluss der Schwerelosigkeit auf die Mikro-Bewegungen in gewisser Weise richtig zu liegen. Der Unterzeichner ist nun zuversichtlich, dass auch diesbezüglich der Nachweis zu erbringen ist.

Appell an die Stiles-Crawford-Forschung

Sollten sich die mit SC-Experimenten befassenden Wissenschaftler von der „festgeschriebenen“ Meinung abbringen lassen, zwischen weißem und monochromem Licht sei kein Unterschied von Bedeutung (Enoch, 1958), dann wird man sich durch Untersuchungen zum SCE im weißem Licht (1932!) auch dem Zusammenhang zwischen chromatischer Aberration und Mikro-Bewegungen vorbehaltlos zuwenden können. Das Phänomen der Sehschärfenzunahme unter Schwerelosigkeit wird man dann vermutlich anders (These?) erklären müssen als mit der Duschkabine.

Auch die geschilderten Beobachtungen aus der Erdumlaufbahn liefern starke Indizien dafür, dass der Stiles-Crawford-Effekt 1. Art der optologische Schlüssel schlechthin zu unzähligen Ereignissen im natürlichen Sehen sein muss ... und auch dafür, dass der SCE I zwingend an weißes Licht im photopischen Sehen gekoppelt ist.

Wie an den unterschiedlich positionierten Empfindungsmaxima der Stiles-Crawford-Funktion zu erkennen ist, erfolgt die foveolare Selektion des zentral abbildenden Strahlenbündels bei photopischer Empfindung von chromatischer Aberration (Tagessehen und weißes Licht) anders als wenn deren „Verarbeitung“ (Abb.7) unterbunden wird (Beleuchtungsstärken unterhalb der Schwelle des Tagessehens oder monochromes Licht). Die heute mit monochromem Licht durchgeführten Untersuchungen der Effizienz von peripher in die Pupille eintretenden Fixierstrahlenbündeln können nur die Photorezeptoroptik ansprechen, sind also nicht in der Lage, Aussagen zum Tagessehen zu machen, weil die Reizverarbeitung keine CA „verwerten“ kann. Optometrische Prüfungen jeder Art, die nur die foveoläre Photorezeptoroptik anregen, können lediglich über Leistungen des mesopischen Sehens informieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildung 7: Chromatische Aberration (CA), nach einer vereinfachten Darstellung in [9]. Die während der Mikro-Bewegungen empfundene chromatische Queraberration dient als Referenz für die chromatische Längsaberration. Die „Verwertung“ foveolär empfundener CA erfolgt im sensorischen Vergleich der Größen G’RG’V und O’RO’V in der Ebene der Retina. Durch Verengung des real genutzten zentral abbildenden Strahlenbündels wird die foveolär empfundene chromatische Längsaberration der gegebenen chromatischen Queraberration (tolerierbarer Wert CA „normal“) angeglichen. – Ein retinaler Prozess, der keiner körperlichen Aperturblende bedarf, aber nur im photopischen Sehen mit weißem Licht funktionieren kann (SCE 1. Art)!– Nicht zu verwechseln mit Photorezeptoroptik!

Sehtests, die eine durch verringerte Empfindung von chromatischer Aberration produzierte höhere Sehschärfe nachweisen sollen, müssen unter allen Umständen im photopischen Sehen durchgeführt werden! Vermutlich sind die enttäuschenden Testergebnisse im Shuttle [4] im Grunde genommen als Folge einer leider verbreiteten Unter- und Fehleinschätzung des SCE 1. Art und seiner absoluten Bindung an weißes Licht im photopischen Sehen zu betrachten!

Dem Astronauten Dr. Walter sei gedankt für die äußerst informative Schilderung des Sehens im Weltraum! Die Erkenntnis, unter Schwerelosigkeit das volle Auflösungsvermögen des visuellen Systems nützen zu können, ist somit als Raumfahrt-Spinoff * zu werten!

* spinoff = Abfallprodukt, «Nutzanwendung der Raumfahrt»

Sollte es dem Unterzeichner gelungen sein, den einen oder anderen Leser anzuregen, seine Gedanken auch einmal in Richtung „Blick von oben“ mit ungewöhnlichen Dimensionen der Sehschärfe zu lenken, hätte dieser Aufsatz schon seine ihm zugedachte Aufgabe erfüllt. Ob es zu kühne Gedanken sind ...? Gewiß passen sie nicht zu einer Denkweise, mit der man teilweise (Aperturblende des Auges!) physiologische Optik versteht. Kann man denn sicher sein, dass eine Lehre unfehlbar ist? Wäre es abwe­gig, weil „physiologisch nicht plausibel"(?), den aufgezeigten Gedanken nachzugehen und in der Stiles-Crawford-Forschung – abweichend von jahrzehntelanger Gewohnheit – wieder Experimente mit weißem Licht (natürlich an helladaptierten Augen) zu erwägen? Es wäre ein hoffnungsvoller Neuanfang, mit der Aussicht, sich von gewissen Fesseln, die optologisches Denken und optometrisches wie augenoptisches Handeln hin und wieder zu blockieren vermögen, befreien zu können.

Hans W. Riedl, Hersbruck

Nachtrag Dezember 2003:

Neuere Recherchen im Web brachten detailliertere Informationen zu den in Abbildung 2 vereinfacht dargestellten Experimenten. Die auf der Erdoberfläche ausgelegten Testobjekte wurden während der Gemini 5 und Gemini 7 Missionen am 21.08.1965 und am 04.12.1965 benutzt.

 

 Abbildung 8: NASA Experiment Information JSC Home Page. Die Testfiguren wurden in Texas bzw. Australien angelegt. Auf dem texanischen Areal zum Beispiel (das australische war ähnlich) – siehe Abbildung - wurden 12 quadratische Felder mit einer Ausdehnung von je 2000x2000 Fuß durch Pflügen, Planieren und Rechen zu uniformen Oberflächen präpariert und darin weiße Balken mit unterschiedlichen Längen zwischen 610 bis 152 Fuß in je einer von vier möglichen (vertikal, horizontal oder diagonal) Orientierungen ausgelegt. Die Aufgabe für die je zwei Astronauten bestand darin, die Ausrichtung des gerade noch erkennbaren Balkens zu benennen. Zu den Angaben wurde jeweils die Position der Raumkapsel (siehe Abbildung 2) relativ zum Testobjekt, Beleuchtung, atmosphärische und Sichtbedingungen registriert. 


 
Literaturhinweise

[1]        Hoimar v. Ditfurth: Der Geist fiel nicht vom Himmel, Evolution unseres Bewußtseins, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 1976

[2]        Ulrich Walter: In 90 Minuten um die Erde, Stürtz Verlag Würzburg, 1997

[3]        Gregor Henke: Neuere Messungen zum Auflösungsvermögen des menschlichen Auges, Jahresband der WVAO 15-1965, S. 78-89

[4]        H. Lee Task and Col. Louis V. Grenco: Effects of Short-Term Space Flights on Several Visual Functions, Space Life Science Laboratories, NASA/Johnson Space Center, Houston, TX

[5]        Hans W. Riedl: Stiles-Crawford-Effekt 1. Art, Untersuchungen von J.M.Enoch (1958) und N.D.Miller (1964),   NOJ 1/1996, S. 24-31

[6]        Josef Reiner: Ein Gerät zur freisichtigen Refraktionsbestimmung, 30. WVAO-Sonderdruck 1979, S. 67-71

[7]        H. Schober: Das Sehen, Band II, 2. Auflage, Fachbuchverlag Leipzig, 1958

[8]        Howard Salomons: Binocular Vision, William Heineman Medical Books Ltd., London, 1978

[9]        Cline, Hofstetter, Griffin: Dictionary of Visual Science, Chilton Book Company, Radnor, Pennsylvania, 1980

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