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Optologie

Versuche zur Farbenstereopsis
und eine daraus entwickelte Theorie


Hans W. Riedl, Staatl. gepr. Augenoptiker, WVAO

Hersbruck, Dezember 2003


 

Schlüsselwörter / keywords

Achse

axis

Aperturblende

aperture stop

Auge, abweichendes

deviating eye

Auge, führendes

leading eye

Auge, schematisches

schematic eye

Empfindung

sensation

Farbenfehler

chromatic aberrations, CA

Farbenlängsfehler

longitudinal CA

Farbenquerfehler

transverse CA

Farbenstereopsis

chromostereopsis

Fixationsdisparation, FD

fixationdisparity

Fixierlinie

visual axis

Foveolamitte

foveola centre

Gesichtslinie

line of vision

Hauptstrahl

chief ray

Mikrobewegung

micromovement

Netzhautgrube

fovea

Reizverarbeitung

stimulus processing

Sehachse

line of vision

Sehen, mesopisches

mesopic vision

Sehen, photopisches

photopic vision

Stiles-Crawford-Effekt

directional effect

Strahlenkegel

cone of rays

Tiefenwahrnehmung

depth perception

Visierlinie, reale

verifiable line of sight

Winkel Gamma

angle gamma

Winkel Kappa

angle kappa

Winkelfehlsichtigkeit

associated heterophoria

Zapfen (Farbrezeptor)

Cone

Zusammenfassung

Das Phänomen Farbenstereopsis wird unter dem Gesichtspunkt Stiles-Crawford-Effekt (SCE) untersucht. Versuche des Autors lassen auf zwei verschiedene Ursachen von binokular räumlicher Wahrnehmung verschiedenfarbiger benachbarter ebener Objekte schließen: Im photopischen Sehen:

Farbzerlegung polychromen Lichtes durch das optische System bei Fixationsdisparation

Im mesopischen Sehen: Horizontal versetzte Empfindungsmaxima unterschiedlicher Zapfentypen verursachen querdisparate Bildlagen für die jeweils von ihnen absorbierten Farben Mit dem Nachweis der Wirksamkeit der Empfindungsmaxima als Zentren virtueller (sensorischer) Aperturblenden erfährt der Stiles-Crawford-Effekt im Ganzen eine unübersehbare optometrische Gewichtung.

Der Besucher wird angeregt, anhand von Experimenten am Computer-Bildschirm Theorie und eigene Wahrnehmung zu überprüfen.

 

Rückblick

Seit Prof. Donders an einer gemusterten Tapete die aufregende Beobachtung machte, das Netz gelber Streifen plötzlich deutlich vor dem blau-schwarzen Hintergrund stehen zu sehen (Abb.1), sein Assistent Einthoven im Jahr 1885 das Phänomen untersuchte und sein Ergebnis veröffentlichte, erklärt man den Begriff Farbenstereopsis, ungenau mit Farbenstereoskopie bezeichnet, als ein unter bestimmten Voraussetzungen im Binokularsehen zustande kommendes Resultat der chromatischen Aberration (Farbenfehler) des Auges

 

  

Abbildung 1: An einer Tapete mit einem Netz gelber Streifen auf  blau-schwarzem Grund hatte Donders das aufregende Erlebnis der Farbenstereopsis

 

Einthoven führte die Wahrnehmung auf den Farbenfehler des Auges und auf die Annahme zurück, die „optische Achse“ des Auges durchstoße die Netzhaut nicht am Ort der Netzhautgrube, sondern in einem mehr oder weniger großen Abstand daneben. Für Einthoven war die vermeintliche Dezentration maßgebliche Voraussetzung für die Wahrnehmung von Farbenstereopsis!

 

Gammawinkel

Der Begriff „Farbenstereoskopie“ taucht seitdem immer wieder in der Fachliteratur auf, wenn es darum geht, auf Auswirkungen des Farbenfehlers der Augen hinzuweisen. Auch der Autor des vorliegenden Artikels versuchte sich vor längerer Zeit schon einmal an diesem Thema [1]. Auf der Suche nach einer Bestätigung für den dem Gammawinkel zugrunde gelegten angeblichen Versatz der Foveolamitte gegenüber dem hinteren Augenpol, wurde er auf einen Fachartikel von Dr. Reiner [2] verwiesen, der die Untersuchungen von Einthoven aufgreift und in Beziehung zum Rot/Grün -Test setzt. Reiner bringt – ebenso wie vor ihm auch Tscherning [3] – die versetzte Netzhautgrube des Auges mit dem Winkel Gamma in Verbindung.

 

Der Verfasser von [1] setzte sich kritisch mit dem Gammawinkel (eigentlich mit dem „hinteren Augenpol“) auseinander: „Das Auge kann keine optische Achse haben“, argumentiert er, „keine Fläche des brechenden Systems ist zu einer anderen und auch zu keinem sich damit auszeichnenden Ort der Retina zentriert. Der hintere Augenpol, auf den sich im schematischen Auge die Erklärung des Gammawinkels bezieht, lässt sich am lebenden Auge gar nicht beschreiben. Folglich ist eine Argumentation, die sich auf diesen vermeintlichen Tatbestand stützt, nicht ernsthaft nachvollziehbar, ist unglaubwürdig und macht keinen Sinn. Schon deshalb sieht der Autor seine Skepsis begründet.“

 

Gängige Auslegung

Nichtsdestoweniger dient das Argument „Farbenstereopsis“ immer wieder als Hinweis auf eine vermutete Versetzung der Foveolamitte gegenüber dem hinteren Augenpol [4]. Der Winkel zwischen Fixierlinie und optischer Achse wird Winkel Gamma genannt. Laut Wörterbuch der Optometrie, also noch aktuelle Fachliteratur, wird der Winkel positiv gerechnet, wenn der hintere Augenpol gegenüber der Foveolamitte nasal versetzt ist, und sinngemäß negativ, wenn der Pol gegenüber der Foveolamitte temporal versetzt ist (Frage: Wird der Winkel bildseitig vom Knotenpunkt K' aus gemessen und gibt den Abstand zwischen hinterem Augenpol und Foveola an, oder wird er objektseitig zwischen Fixierlinie und optischer Achse ausgehend von der Mitte der Eintrittspupille gemessen, wie es DIN 5340 definiert?). Die angeblich möglichen Versetzungen des hinteren Augenpols gegenüber der Foveola reichen von 2,5 mm nasal bis 1 mm temporal, in angularem Maß für den Winkel Gamma soll dies Werten von +8 Grad bis –3 Grad entsprechen [5].

 

Achtung! Abweichend von DIN 5340 definiert der Autor reale Visierlinie und Gesichtslinie als Geraden durch die Mitte der Foveola (siehe Abb. 8). Der Gammawinkel ist im photopischen Sehen das Maß zwischen physiologischer Augenachse und realer Visierlinie, der Winkel Kappa im mesopischen Sehen das Maß zwischen physiologischer Augenachse und Sehachse (Gesichtslinie).

 

Reiner vermittelt in seinem Artikel - vermutlich unabsichtlich - den Anschein, dass positiver und negativer Winkel Gamma etwa gleich häufig auftreten. Einthovens dreißig Versuchspersonen hatten nämlich je zur Hälfte farbenstereoskopische Wahrnehmungen, die bei seiner Argumentation entweder dem positiven (Rot vor Grün) oder dem negativen Gammawinkel (Grün vor Rot) zugeordnet werden müssten. Allein schon eine derartige Häufigkeitsverteilung positiver und negativer Gammawinkel lässt doch gewisse Zweifel aufkommen!  

 

 

Abbildung 2: Beispiel einer zur Wahrnehmung von Farbenstereopsis geeigneten rot/grünen Testfigur auf weißem Grund

 

 

Abbildung 3: Die gleiche Testfigur Rot/Grün auf schwarzem Untergrund

 

 

Abbildung 4: Versuche am Monitor eines PC. Bei für Tagessehen ausreichender Raumbeleuchtung lassen sich Versuche zur Farbenstereopsis auch recht gut am PC durchführen. Die Abbildungen 2 und 3 zeigen Vorschläge von geeigneten Testfiguren, die wechselweise auf weißem und schwarzem oder monochromem Hintergrund dargeboten werden können, um die verschiedenen Stereopsiseffekte im photopischen bzw. mesopischen Sehen zu demonstrieren.

 

Umkehrung der Stereopsis

Ganz und gar verworren wird die Lage, wenn – wie es Schober beschreibt und auch anhand der Abbildungen 2 und 3 oder bei Experimenten am PC (Abb. 4) vom einen oder anderen Leser (es kann naturgemäß nicht bei allen klappen!) im Eigenversuch bestätigt werden wird – beim Wechsel der Hintergrundfarbe von Schwarz bzw. monochrom auf Weiß die räumliche Wahrnehmung auch noch ins Gegenteil umschlägt. Diese Situation lässt sich nun keinesfalls mehr in eine verständliche Beziehung zum Gammawinkel bringen!

 

Als der Unterzeichner sich erstmals mit dem Thema beschäftigte [1], kam er auch zu dem Schluss, das Phänomen müsse wohl mit der chromatischen Aberration (Farbenfehler) des Auges zusammenhängen, könne aber nicht dem Gammawinkel in die Schuhe geschoben werden, sondern müsse eher der Fixationsdisparation bei Winkelfehlsichtigkeit zugeordnet werden. Donders, bei dem der Effekt wohl sehr auffällig auftrat, müsste dann eine besonders ausgeprägte (Eso)Fixationsdisparation gehabt haben.

 

Zur Bestätigung dieser Theorie wäre es bei konsequenter Verfolgung des Gedankens allerdings erforderlich gewesen, die Umkehrung der Tiefenwahrnehmung bei Exo-Fixationsdisparation nachzuweisen. Die Versuche scheiterten, so vermutete der Autor damals, an der Provozierbarkeit der Exo-FD (mit achromatisierten Prismen) bei den Versuchspersonen. Der Umkehreffekt kam erst zustande wenn die Hintergrundfarbe von Weiß auf Schwarz wechselte. Dieser besondere Umstand lässt sich wiederum nicht mit der Theorie „Farbenfehler“ vereinbaren! Liefen also die bisherigen Überlegungen generell in die falsche Richtung? Oder müsste da noch eine weitere Möglichkeit erwogen werden?

 

Der Autor beendete seinen damaligen Aufsatz damit, seine Arbeit als noch nicht abgeschlossen zu betrachten, Schobers Erklärung (siehe Kasten) könne seiner Meinung nach aber möglicherweise den Schlüssel zur Auflösung der Frage beinhalten, da diese Erklärung ausdrücklich auf die Bedeutung der Hintergrundfarbe eingehe:

Prof. Schober führt die Umkehrung der räumlichen Wahrnehmung darauf zurück, dass das Wesen der Farbenstereoskopie eine relative Wahrnehmung sei [6], die als Wettstreit zwischen der Wirkung des Objektes und seines Hintergrundes aufgefasst werden könne.

... während Weiß alle Farben reflektiert, also auch die Farbe des Objektes enthält, entfällt dieser Wettstreit bei schwarzem Hintergrund und erklärt somit die mögliche Umkehrung

(nach Schober)

 

So sehr den Autor zunächst noch Zweifel an Schobers sibyllinischer Deutung verunsicherten, so sicher glaubt er heute sein zu können, dass sich dahinter die Lösung verbergen müsse:

 

Weißer Hintergrund enthält alle Farben

► Empfindung chromatischer Aberration (Farbenquerfehler) ist möglich

Schwarzer oder monochromer Hintergrund

► Empfindung chromatischer Aberration ist nicht möglich; der „Wettstreit entfällt“ ...

 

Strahlenbegrenzung

 

 

Abbildung 5: Der Effekt der sensorischen Aperturblende (Begrenzung des Strahlenbündels) beruht auf Kontrolle des Farbenlängsfehlers O'R O'V in der Foveola nach Maßgabe des bei den Mikrobewegungen registrierten Farbenquerfehlers G'R G'V; die Darstellung einer „körperlichen Aperturblende“ ist symbolisch für die Auswirkung der Fehlerkontrolle zu verstehen.

 

Man fragt sich natürlich, wozu das Ganze? Die Antwort liegt wohl in der geheimnisvollen Eigenart der Strahlenbegrenzung des visuellen Systems begründet! Um das Gehirn nicht mit unbrauchbaren Informationen durch jede Art von Abbildungsfehlern zu überfluten, muss der Strahlenkegel, der zur Information über zentrale Abbildung genutzt wird, begrenzt werden. Da an einer wirksamen Einschränkung des Strahlenbündels keine körperliche Aperturblende beteiligt sein kann [7], kommt nur eine sensorische Selektion der Öffnungsstrahlen infrage. Dass im Sehprozess so eine Art Selektion stattfinden muss, lässt sich ohne Zweifel am Stiles-Crawford-Effekt (SCE) mit der verminderten Effizienz peripher in die Eintrittspupille einfallender Fixierstrahlenbündel nachweisen!

 

Wettstreit beschreibt Schwelle

Legt man nun der Überlegung die Untersuchungen von Stiles [8] zugrunde, so bekommt Schobers „Wettstreit“ in Bezug auf Farbenstereopsis und Hintergrundfarbe – in einer völlig neuen, jedoch mit dem SCE nachvollziehbaren Betrachtungsweise – ein ganz anderes Gewicht. Der Wettstreit beschreibt die Schwelle, die das retinale Umschalten von einer in eine andere Selektionsform veranlasst. Offenbar liegt sie in der fovealen Fähigkeit, Farbenfehler empfinden und auswerten zu können.

 

Im Tagessehen befähigt weißer Hintergrund die Fovea, Dispersion zu empfinden und zu bewerten. Der einzig denkbare sensorisch nutzbare Abbildungsfehler ist der Farbenfehler: Der durch Neigung des Hauptstrahls bei den Mikrobewegungen entstehende oszillierende Farbenquerfehler stellt das Maß des Unabwendbaren dar. Hat die Foveola also die Möglichkeit, durch sensorische Kontrolle des Farbenlängsfehlers den Strahlenkegel auf dieses unvermeidliche Maß an zu empfindender Dispersion zu begrenzen (Abb.5), so reduziert sie damit effektiv alle anderen Abbildungsfehler. Der bei den Mikrobewegungen registrierte Farbenquerfehler scheint die maßgebliche Größe zu sein, den die Sensorik der Foveola – weil unabwendbar – zu tolerieren bereit ist. Die Empfindung des Farbenfehlers hat also für die Qualität des photopischen Sehens geradezu elementare Bedeutung!

 

Anders bei schwarzem oder monochromem Hintergrund: Bei den Mikrobewegungen ist der Farbenquerfehler nicht zu registrieren. Die Foveola hätte keine Chance, Abbildungsfehler auf ein für das Gehirn erträgliches Maß zu reduzieren. Die Retina muss auf eine andere Art der Reizverarbeitung umstellen, die über eine eigene Strahlenbegrenzung verfügt: die Hohlleiterfunktion der Photorezeptoren. Mechanismen der Hohlleiter bewirken eine Strahlenbegrenzung, die dem Effekt einer sensorischen Aperturblende zwar ähnelt, jedoch mit dem Unterschied, dass jeder Rezeptortyp über ein eigenes Strahlenbündel nur des Spektralbereichs, für den er bevorzugt sensibilisiert ist, verfügt. Die Vermutung liegt nahe, dass diese retinale Funktion im Dämmerungssehen (mesopisch) aktiv ist.

 

Stiles’ und Crawfords Untersuchungen

Sieht man sich die Untersuchungen von Stiles und Crawford im weißen Licht und die von Stiles im monochromen Licht – in Schritten verteilt über den Bereich von 440nm bis 720nm – bei der Versuchsperson W.S.S. genauer an (Abb.6), so ergibt sich neben dem Empfindungsmaximum für weißes Licht eine eindeutige Zuordnung von Wellenlängen zu Absorptionsbereichen der Farbrezeptoren. Jeder Photorezeptortyp (S, M, L) verfügt über ein eigenes Empfindungsmaximum. Entsprechend der Ausrichtung (Orientierung) der Rezeptoren haben diese Empfindungsmaxima verschiedene Positionen an der ersten brechenden Fläche des Auges.

 Textfeld:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildung 6: SC-Empfindungsmaxima auf der horizontalen Traverse durch die Mitte der Eintrittspupille der Versuchsperson W.S.S. (L) nach Angaben von W.S.Stiles und B.H.Crawford (1932) zu Effizienzmessungen im weißen Licht, bzw. W.S.Stiles zu Effizienzmessungen in monochromem Licht (1937), und Zuordnung zu bevorzugten Absorptionsbereichen der Photorezeptoren.

*S = short wavelength;*M = middle wavelength; *L = long wavelength;** (-) = nasal; (+) = temporal.

 

Die Versuchsperson Stiles dient mangels weiterer Messergebnisse an anderen Probanden  – über entsprechende Frequenzbereiche – als vorläufigeinziges Anschauungsobjekt. Da außer dieser Tabelle keine weiteren Messungen über vergleichbar ausgedehnte Spektralbereiche vorliegen, muss auch über ungeklärte Differenzen in der zweiten Stelle hinter dem Komma hinweggesehen werden.

 

Zur Verdeutlichung hat der Autor die Empfindungsmaxima Stiles’ (Stiles verwendet ein Messbündel mit Durchmesser 1,0 Millimeter in Ebene der Eintrittspupille) in die Eintrittspupille des untersuchten Auges (W.S.S.) von 8 Millimeter Durchmesser eingezeichnet (Abb.7). Es wird unterstellt, dass die Positionen in beiden Augen symmetrisch vorzufinden sind.

 

 

Abbildung 7: Position des Empfindungsmaximums für weißes Licht (-0,2mm) und die Orientierung foveolärer Photorezeptoren (S +0,49; M +0,32; LI+0,57; LII+0,67) in der Eintrittspupille des linken Auges der Versuchsperson W.S.S.; Stiles verwendete für seine Effizienzmessungen einen Bündeldurchmesser von 1,0 Millimeter in Ebene der Eintrittspupille.

 

Stiles-Crawford-Effekt im photopischen und im mesopischen Sehen ...

 

Bezugsblickrichtung und Richtungswert

1.    Im photopischen Sehen bei weißem Hintergrund ist für die Abbildung im Auge die sensorische Aperturblende für weißes Licht, die sich an der Position des Empfindungsmaximums für weißes Licht orientiert, maßgebend. Bei zentraler Fixation hat die Mitte der Foveoladen Richtungswert Geradeaus. Die Bezugsblickrichtung ist durch das Empfindungsmaximum – identisch mit dem ophthalmometrischen Pol – festgelegt (Abb.7).

2.    Im mesopischen Sehen ist die Hohlleiterfunktion aktiviert. An der Ausrichtung der Photorezeptoren orientiert sich die Position des jeweiligen Empfindungsmaximums. Da wegen unterschiedlich positionierter Empfindungsmaxima jeweils nur ein Typ zentraler Photorezeptoren (L oder M) den Richtungswert Geradeaus haben kann, übernimmt dieser im mesopischen Sehen die Führung (Sehachse).Sein Empfindungsmaximum legt die Bezugsblickrichtung (Nullrichtung) fest.

 

Während im monokularen photopischen Sehen die Mitte der Foveola den Richtungswert Geradeaus hat, trifft diese Aussage im mesopischen Sehen nur für den Rezeptortyp der Foveola zu, der die Führung bei der Fixation wahrnimmt.

 

Der Überlegung des Autors zu Abbildung 8 wurde zugrunde gelegt, dass der M-Rezeptor die Führung innehabe (Grün wird fixiert). Der zentrale Hauptstrahl geht durch die Mitte der Aperturblende (Empfindungsmaximum) des führenden Rezeptors. Für Bildkonstruktionen sind auf diesem Hauptstrahl die Knotenpunkte KM und K'M (vereinfacht KM) anzusetzen. Rezeptortypen mit davon abweichender Orientierung haben von der Nullrichtung verschiedene Richtungswerte. Ihre Empfindungsmaxima/Aperturblenden erzeugen Abbildungen, die auf den Retinae versetzt (disparat) liegen. Objekte mit binokular querdisparaten Bildorten innerhalb der Panumareale werden räumlich wahrgenommen.

 

 

Abbildung 8: Horizontaler Schnitt durch das linke Auge des Probanden W.S.S.; Positionen der Empfindungsmaxima an der Hornhautvorderfläche; schematische Darstellung der Bildentstehung bei zentraler Fixation im photopischen Sehen und im mesopischen Sehen. Darstellung von Winkel Gamma und Winkel Kappa[riedl]

 

Zentrale Fixation

Im monokularen photopischen Sehen werden sowohl das rote als auch das grüne Testobjekt zentral abgebildet. Fixiert das Auge den grünen Testteil, entsteht das rote Bild bedingt durch den Farbenlängsfehler „hinter“ der Netzhaut, wird unscharf und größer wahrgenommen. Durch Akkommodation wird das rote Bild auf die Netzhaut geholt. Es mag oder wird sein, dass durch die Akkommodation die Wahrnehmung „Näher“ signalisiert wird, auch kann die Größe des Bildes einen solchen Eindruck hervorrufen.

 

Im Binokularsehen soll nach Angabe mancher Autoren im geführten Auge das Bild mit der längeren Schnittweite – durch Konvergenz bedingt – temporal von der Foveolamitte abgebildet werden. Temporal querdisparate Abbildung führt zur Wahrnehmung „Näher“. Dieser mögliche Vorgang sei der Ordnung wegen erwähnt. Er ist zwar gedanklich nachvollziehbar, konnte aber bei den Versuchen des Verfassers (ebenso wenig wie der durch Akkommodation und Größe verursachte Effekt) nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden (Abb.8, unterer Kasten zu „a“).

 

Fixationsdisparation

Eindeutig werden die Angaben der Versuchspersonen, wenn Eso-Fixationsdisparation ins Spiel kommt. Eso-FD führt im abweichenden Auge zu nasaler Verlagerung der Farbzerstreuung. Bei Fixation von Rot (Grün) liegt im führenden Auge das zugehörige Bild (zusammen mit dem grünen) in der Foveolamitte. Im abweichenden Auge liegen beide Bildorte nasal von der „Mitte“, jedoch Rot weniger dezentriert als Grün. Binokular liegt somit temporale Bildlage von Rot vor. Es wird die Wahrnehmung Rot näher vermittelt. Während die Experimente mit Winkelrechtsichtigkeit, also mit bizentraler Fixation, noch Unsicherheiten zeigten, war die geschilderte Farbenstereopsis bei Vorliegen einer Eso-Fixationsdisparation ganz klar nachweisbar (Abb.9).

 

Schobers „Wettstreit“ mit der Aussage, weißer Hintergrund reflektiere alle Farben, schwarzer jedoch keine [6], ist nun so zu deuten, dass nur die Empfindung eines polychromen Spektrums die Foveola in die Lage versetzt, Öffnungsstrahlen des Strahlenkegels nach bestimmten Kriterien des Farbenfehlers zu selektieren. Schwarzer und monochromer Hintergrund verhindern jedoch die Empfindung von Dispersion. Die beschriebene Selektion nach Kriterien der spektralen Zerlegung polychromen Lichtes kann also nicht erfolgen. Für das Auge tritt dieselbe Situation wie beim Übergang zum Dämmerungssehen (mesopisch) ein: Die Hohlleiterfunktion der Farbrezeptoren wird aktiviert.

 

 

Abbildung 9: Farbenstereopsis im photopischen Sehen bei Esofixationsdisparation (schematisch); abweichendes linkes Auge beim Anblicken des roten Testteils. Eso-FD verlagert im abweichenden Auge das Bild nasal der Foveolamitte; optisches Zentrum der Hornhautvorderfläche ist der ophthalmometrische Pol (die sensorische Aperturblende für weißes Licht ergibt sich aus dem von der Retina selektierten Strahlenkegel); polychromes Licht wird in seine monochromen Bestandteile zerlegt (Dispersion), Rot wird weniger abgelenkt als Grün und liegt somit temporal,► Wahrnehmung: Rot näher.

 

Es ergibt sich somit ein ganz neuer Aspekt für die Ursache von Farbenstereopsis. Im photopischen Sehen ist zweifellos der Farbenquerfehler des Auges für die Farbenstereopsis verantwortlich. Verstärkt werden kann die Wahrnehmung Rot vor Grün (Blau) durch Eso-Fixationsdisparation. Die Umkehrung der Tiefenwahrnehmung vor schwarzem Hintergrund hat jedoch mit dem Farbenfehler nichts zu tun. Sie ist im mesopischen Sehen eine Folge der Hohlleiterfunktion der Zapfen. Unterschiedliche Orientierung der Photorezeptoren hat unterschiedlich gelagerte Empfindungsmaxima und unterschiedliche Richtungswahrnehmung für Farben des zugehörigen Absorptionsbereichs zur Folge.

 

Farbenstereopsis hat also zwei voneinander völlig unabhängige Ursachen mit verschieden möglicher Auswirkung auf die Tiefen­wahrnehmung verschiedenfarbiger benachbarter ebener Objekte. Während eine Ursache (Farbenfehler) eindeutig dem photopischen Sehen zuzuordnen ist, kann die andere (Hohlleiterfunktion) nur im mesopischen Sehen wirksam werden.

 

Stiles’ Empfindungsmaxima

Am Beispiel der Versuchsperson W.S.S. (Stiles) wird dargestellt, dass bei Empfindung von chromatischer Aberration (photopisches Sehen mit weißem Licht) der ophthalmometrische Pol der Hornhaut als optisches Zentrum wirkt. Weißes Licht, das geneigt zur realen Visierlinie auf die Hornhautvorderfläche trifft, wird zerstreut. Liegen Umstände vor, die im geführten Auge zu einer nasal von der Mitte der Foveola entstehenden Abbildung führen (Eso-FD), so wird die Dispersion verlagert. Da Grün stärker abgelenkt wird als Rot, entsteht das grüne Bild nasal von Rot. Somit liegt im Binokularsehen Rot temporal von Grün und führt zur Wahrnehmung Rot näher.



Abbildung 10: Farbenstereopsis im mesopischen Sehen bei Aktivierung der Hohlleiterfunktion von Photorezeptoren; horizontal versetzte Positionen der Empfindungsmaxima der Photorezeptoren führen zu querdisparater Lage der im jeweiligen Absorptionsbereich erzeugten Bilder; das Beispiel W.S.S. zeigt, dass bei Fixation des grünen Testteils Rot binokular nasal von Grün abgebildet wird ► Wahrnehmung Rot weiter. Mindestausdehnung des Panumbereiches zur Wahrnehmung von Farbenstereopsis.

 

Da nicht bekannt ist, ob Stiles eine Eso-FD hatte, muss es nicht zwangsläufig heißen, Stiles hätte vor weißem Hintergrund Farbenstereopsis, nämlich Rot vor Grün, auffällig deutlich wahrnehmen müssen. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber hätte er vor schwarzem Hintergrund die gegensätzliche räumliche Wahrnehmung roter und grüner Objekte machen können, weil horizontal unterschiedlich ausgerichtete Photorezeptortypen an der Wahrnehmung beteiligt waren (Abb. 6, 7 und 10) – vorausgesetzt die Querdisparation der benachbarten Bildteile Rot und Grün liegt innerhalb der Panumbereiche!

 

Stiles ist nun zufällig ein Proband, bei dem der Effekt der Umkehrung beim Wechsel des Untergrunds besonders deutlich nachvollziehbar ist. Er ist aber sicher kein Einzelfall. Bei anderen mögen die Empfindungsmaxima völlig anders gelagert sein – es existieren einfach zu wenige SCE-Messungen der Art wie sie Stiles vornahm (Messungen bei weißem und bei monochromem Licht verteilt über das ganze Spektrum). Die in vielen Fällen sicher anders gelagerten Maxima (Abb.11) werden der Grund sein, weshalb nicht von allen Testpersonen der Umkehreffekt feststellbar ist. Schobers offensichtliche Verallgemeinerung in Regel 325 [6] und den zugehörigen Textpassagen muss diesbezüglich sicher relativiert werden, weil der Umkehreffekt nicht grundsätzlich auftritt. Wenn er aber auftritt, dann wird er in der Regel mit einer Verzögerung von einigen Sekunden (Donders: „plötzlich!“) wahrgenommen. Und diese Verzögerung spricht dafür, dass eine retinale Umstellung der Reizverarbeitung geschieht, die mit der Umstellung von photopischem auf mesopisches Sehen (und umgekehrt) zu erklären ist.

 

Donders’ Erlebnis

Am Beispiel W.S.S. wird auch deutlich, dass er vermutlich zu den Personen gehört haben dürfte, die bei Aktivierung der Hohlleiterfunktion, also vor schwarzem Hintergrund, eine deutlich ausgeprägtere Farbenstereopsis gehabt haben werden als vor weißem Hintergrund. Da Donders sein Schlüsselerlebnis an einer Tapete mit einem Netz gelber Streifen auf blau-schwarzem Untergrund hatte, ist davon auszugehen, dass nicht die von seinem Assistenten Einthoven gemutmaßte chromatische Aberration bei „Abweichung der optischen Achse“ von der Netzhautgrube Ursache seiner Farbenstereopsis war, sondern – weil dieser Sehvorgang sich im mesopischen Sehen abspielte – wahrscheinlich ein nasal vom Empfindungsmaximum des Blaurezeptors (S) gelagertes Empfindungsmaximum des L-Rezeptors vorlag. Der Autor muss sich damit von seiner vor zehn Jahren geäußerten Vermutung distanzieren, Donders müsse eine hochgradige Eso-Fixationsdisparation gehabt haben. Aus der vorliegenden Betrachtung (SCE) ergibt sich nämlich eine ganz andere Interpretation. Und im Nachhinein ist auch die Erklärung „chromatische Aberration bei Fehlzentrierung des Auges“ für die von Einthoven untersuchten Fälle mit einem dicken Fragezeichen zu versehen, weil Donders’ Erlebnis eindeutig dem mesopischen Sehen zuzuordnen ist, bei dem ganz sicher die Hohlleiterfunktion aktiviert war.

 

Einthovens Probanden

Ebenso sicher, wie Donders’ Beobachtung dem mesopischen Sehen zuzuordnen ist, ist auch anzunehmen, dass Einthoven seine Experimente vor schwarzem Hintergrund durchführte. Die Verteilung von je 50 Prozent seiner dreißig Versuchspersonen, die Rot vor Blau (Grün) bzw. Blau (Grün) vor Rot wahrnahmen, kann folglich weder dem Farbenfehler noch dem Gammawinkel zugerechnet werden, sondern ist allein einer unterschiedlichen Ausrichtung (Orientierung) der Farbrezeptoren zuzuschreiben. Dass dem so ist, konnte allerdings Einthoven noch nicht ahnen, da Erkenntnisse des Stiles-Crawford-Effektes, mit deren Hilfe erstmalig die Zuordnung zum mesopischen Sehen – statt des vermeintlichen photopischen Sehens – und die Beziehung zu den Empfindungsmaxima monochromen Lichtes auf funktionsbezogener Basis ermöglicht worden wäre, erst ein halbes Jahrhundert später datieren.

 

Die Wahrnehmung Rot vor Blau (Grün), die im photopischen Sehen (weißer Hintergrund) vom Farbenfehler – bei Eso-FD – verursacht wird, entsteht im mesopischen Sehen (schwarzer Hintergrund) bei einer Konstellation der Empfindungsmaxima wie in Abbildung 11 dargestellt. Eine zufällige 50/50-Verteilung von Versuchspersonen (Einthoven), bei denen das blaue (grüne) Empfindungsmaximum temporal vom roten bzw. umgekehrt liegt, ist sehr viel wahrscheinlicher als die Chance, unter dreißig Versuchspersonen nur eine einzige, geschweige denn fünfzehn, mit negativem Winkel Gamma zu finden.

 

Schlussfolgerung

Die vorliegenden Überlegungen lassen die Farbenstereopsis nicht nur in einem anderen Licht erscheinen, weil sie den Zusammenhang mit Gammawinkel und die angeblich mögliche wechselseitige Versetzung der Netzhautgrube gegenüber dem hinteren Augenpol der Gattung „ungewisse Hilfskonstruktionen“ zuordnen. Die Darlegungen begründen auch, warum Farbenstereopsis von verschiedenen Versuchspersonen nicht nur verschieden, sondern beim Wechsel der retinalen Verarbeitung vom photopischen zum mesopischen

Sehen von ein und derselben Versuchsperson auch gegensätzlich wahrgenommen werden kann.

 

Farbenstereopsis weist somit die Existenz einer sensorischen Aperturblende für weißes Licht einerseits und die Wirksamkeit verschiedener Aperturblenden für einzelne Rezeptortypen andererseits nach. Die laterale Position der Aperturblende(n) drückt sich in der jeweiligen Lage der Empfindungsmaxima des Stiles-Crawford-Effektes aus.

 

 

Abbildung 11: Mögliche Position der SC-Empfindungsmaxima, die im mesopischen Sehen die Tiefenwahrnehmung Rot vor Grün (Blau) erzeugen würde; diese oder ähnliche Konstellation kann bei 50 Prozent der Versuchspersonen Einthovens vorgelegen haben, die (auf schwarzem Grund?) Rot vor Blau (Grün) wahrnahmen; als Bündeldurchmesser in Ebene der Hornhautvorderfläche wird 1,3mm angenommen. 

 

Mit dem Nachweis der optischen Wirksamkeit der Empfindungsmaxima von Photorezeptoren als alternative Ursache von Farbenstereopsis ist belegt, dass dem Stiles-Crawford-Effekt in Bezug auf Position – und Ausdehnung – zentral abbildender Strahlenbündel eine gewichtige optometrische Bedeutung gleichermaßen für das photopische (Schwelle!) und das mesopische Sehen zukommt!

 

Hersbruck, Dezember 2003

 

Hans W. Riedl

 

Literaturverzeichnis

[1]     Hans W. Riedl: Farbenstereoskopie – eine Folge des Gammawinkels?, Optometrie 2/1992, S. 58 bis 61

[2]     Dr. J. Reiner: Farbenstereoskopie, SOZ 7/55, S. 189 bis 192

[3]     Duke-Elder: System of Ophthalmology, Ophthalmic Optics and Refraction, Henry Kimpton London, 1970, S. 170

[4]     Dr. Jutta Eckenfels: Die geometrische und die wahrgenommene Bildgröße im visuellen Prozess, Teil IX, DOZ 3/2001, S. 28

[5]     Helmut Goersch: Wörterbuch der Optometrie, Verlag Bode Pforzheim 2001

[6]     Schober: Das Sehen, Band 2, Fachbuchverlag Leipzig, 1958, S. 373

[7]     Hans W. Riedl: Pupille – Aperturblende des Auges?, Der Augenoptiker 5/97, S. 119 bis 123

[8]     W. S. Stiles: The luminous efficiency of monochromatic rays entering the eye pupil at different points and a new colour effect, Royal Society of London, 123-B (1937), S. 90 bis 118

 

Anschrift des Autors:

Hans W. Riedl

Am Steinberg 28

91217 Hersbruck

eMail: hansw.riedl@t-online.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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